KEM Konstruktion: AVL entwickelt seit Jahrzehnten im NVH-Bereich Triebstränge, Aggregate und Fahrzeuge. Was sind Ihrer Meinung nach derzeit die größten Herausforderungen?
Graf: Im Bereich der konventionellen Antriebsstränge, sprich Verbrennungsmotoren, stellt uns mit Sicherheit die Effizienzsteigerung und das damit einhergehende Downsizing und die Reibungsoptimierung vor große Herausforderungen. Viele dieser Maßnahmen führen zu einer Verschlechterung der akustischen Eigenschaften der Aggregate und diese müssen dementsprechend hinsichtlich Geräuschpegel und -qualität wieder auf ein akzeptables Niveau gebracht werden. Eine weitere große Herausforderung stellt die Elektrifizierung dar. Es treten hier durch das Fehlen des maskierenden Verbrennungsmotorgeräusches neuartige Geräusche zutage, mit denen wir uns bis dato noch nicht beschäftigen mussten. Ein anderes Thema ist die Betriebsstrategie. Denken Sie an eine rote Ampel: das Fahrzeug steht still und es arbeitet nur der Klimakompressor oder eine Kühlmittelpumpe, die man deutlich hört und als störend wahrnimmt.
KEM Konstruktion: Wie verändert sich Ihrer Meinung nach die Akustikentwicklung, wenn Kunden gar keine Fahrzeuge mehr besitzen, sondern nur noch mieten? Ist es dann noch wichtig den typischen „Markenklang“ beziehungsweise ein besonders sportlich klingendes Fahrzeug zu entwickeln?
Graf: Das Beseitigen von Störgeräuschen beziehungsweise von störenden Schwingungen ist der Haupttätigkeitsbereich und wird der Schwerpunkt der Akustikentwicklung bleiben. Es ist unsere Pflicht, die Störgeräusche in den Griff zu bekommen und bestmöglich zu reduzieren. Des Weiteren gilt es, auch die gesetzlichen Anforderungen entsprechend zu erfüllen. Die Klanggestaltung und das Sounddesign sind die Kür. Die Entwicklung eines Markenklangs und einer markenspezifischen Soundgestaltung ist speziell für sportliche Fahrzeuge ein nicht unwesentliches Verkaufsargument. Das wird auch in Zukunft so bleiben und AVL kann hier mit einem umfangreichen Know-how unterstützen.
KEM Konstruktion: Die Fahrzeughersteller realisieren teilweise sehr unterschiedliche Antriebskonzepte (Art der E-Maschine und deren Topologie, Batteriekühlkonzepte, Bauraumvarianten etc.), die per se schon ein anderes akustisches Verhalten aufweisen. Hat AVL die Möglichkeit, dem Kunden aufzuzeigen, wo sein Fahrzeug im Wettbewerb steht?
Graf: Wir führen permanent Benchmark-Aktivitäten zu unterschiedlichen Themen durch, bei denen Fahrzeuge und Antriebe im Detail untersucht werden. Alle Messdaten und Erkenntnisse fließen in Datenbanken und stehen in weiterer Folge in Form von Streubändern zur Verfügung. Damit ist es möglich, Ziele auf allen Ebenen (Fahrzeug, System und Komponente) zu definieren und die Anforderungen und Entwicklungstätigkeiten hinsichtlich Simulation und Entwicklung darauf abzustimmen.
KEM Konstruktion: Gibt es bezüglich der akustischen Prüf- und Simulationsszenarien einen Unterschied zwischen einem Fahrzeug mit Verbrennungsmotor und einem Fahrzeug mit zum Beispiel zwei E-Maschinen?
Graf: Die Simulations- und Entwicklungsmethoden im Bereich NVH für Verbrennungsmotoren und konventionelle Antriebsstränge wurden in den vergangenen 20 bis 30 Jahren perfektioniert und sind bereits auf einem sehr hohen Niveau. Das heißt jedoch nicht, dass hier in Zukunft nicht noch bessere und effizientere Lösungen etabliert werden können. Im Bereich der elektrifizierten Antriebsstränge gibt es neue Herausforderungen – nicht nur in der Simulation, sondern auch im Testing. Einer der wesentlichsten Unterschiede ist das Fehlen von Erfahrungswerten, wie wir sie im Bereich der konventionellen Antriebsstränge kennen.
KEM Konstruktion: Wie eng sind bei Ihnen Simulation und Versuch miteinander verzahnt?
Graf: Simulation und Versuch sind sehr eng miteinander verzahnt. Dies ist schon aufgrund der kurzen Entwicklungszeiten und der reduzierten Anzahl von Prototypen notwendig. Ein anderer Aspekt ist, dass schon in einem frühen Stadium in der Produktentwicklung belastbare Aussagen über das akustische Verhalten des Antriebsstrangs im Gesamtkontext Fahrzeug getroffen werden müssen.
KEM Konstruktion: Bei konventionell angetriebenen Fahrzeugen kommen viele sogenannte Sekundärmaßnahmen bezüglich der akustischen Dämmung zum Einsatz (wie zum Beispiel Motor- oder Getriebekapselungen). Wie sieht die Situation bei elektrischen Antriebssträngen aus?
Graf: Auch bei elektrischen Antriebssträngen ist es notwendig, sich dieser Sekundärmaßnahmen zu bedienen und diese zielgerichtet einzusetzen. Das betrifft zum einen die Körperschallentkoppelung über Elastomer-Lagerungen von zum Beispiel E-Achsen, aber auch die Entkoppelung von Hilfsaggregaten, die fahrzeugfest verbaut werden wie zum Beispiel elektrische Lenkhilfepumpen oder Klima-Aggregate. Die leiseren Elektrofahrzeuge erfordern ebenfalls den Einsatz von Kapselungen zur Reduktion der Luftschallabstrahlung dieser Aggregate, da diese ansonsten speziell im Fahrzeuginnenraum aufgrund des geringen Grundschallpegels als störend empfunden werden können.
KEM Konstruktion: AVL ist neben der Bearbeitung von Kundenprojekten auch sehr stark auf interne Forschung und Entwicklung fokussiert. Welche Forschungsprojekte im Bereich „Akustik-Elektromobilität“ (E-Maschine, Getriebe, Simulation, Prüfstandsperipherie etc.) sind aktuell oder in Zukunft relevant?
Graf: Momentan gibt es sehr viele Forschungsthemen im Bereich Elektromobilität. Diese dienen der Entwicklung und Verbesserung der Simulationsmethoden zur Abbildung akustisch relevanter Phänomene von unterschiedlichen E-Motorenkonzepten bis hin zur Abbildung von Magnetostriktion und damit entstehende Vibrationsthemen von Elektronikbausteinen wie Spulen oder Kondensatoren in der Leistungselektronik. Ein weiteres sehr spannendes Thema ist die Frage „Wie klingt das Elektrofahrzeug der Zukunft?“. Um dieser Frage nachzugehen, wurde eine umfangreiche Studie mit Probanden aus unterschiedlichen Altersschichten durchgeführt. Ihnen wurden in einem Serien-Elektrofahrzeug mehrere eigenentwickelte E-Fahrzeugsounds unterschiedlicher Ausprägungen vorgespielt. Das Ergebnis hat gezeigt, dass die Mehrheit der Testpersonen einen moderaten Sound im Fahrzeuginnenraum bevorzugt, der zusätzlich zum Fahrerlebnis akustisch über die Fahrzustandsänderung informiert. Am gleichen Fahrzeug wurde auch ein AVAS (Acoustic Vehicle Alerting System) entwickelt, das die zukünftig geltende Außengeräuschgesetzgebung bereits erfüllt und individuell – im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben – an unterschiedliche Fahrzeuge angepasst werden kann.
Details zum Thema Noise Vibration Harshness (NVH) bei AVL:
hier.pro/gKeON
„Das Beseitigen von störenden Schwingungen ist der Haupttätigkeitsbereich und wird der Schwerpunkt der Akustikentwicklung bleiben. Es ist unsere Pflicht, die Störgeräusche in den Griff zu bekommen und bestmöglich zu reduzieren.“