Steht die Hydropneumatik vor dem Aus und dafür Steer-by-Wire vor der Tür? Lutz Eckstein, Leiter des Lehrstuhls und des Instituts für Kraftfahrzeuge (ika) an der RWTH Aachen, äußerst sich im Interview über Fahrwerkstrends wie Hinterradlenkung und Nabenantrieb.
Das Interview führte Hartmut Hammer, freier Mitarbeiter der AutomobilKonstruktion
Warum denkt Citroën darüber nach, die Hydropneumatik aufzugeben?
Diese epochale Fahrwerktechnik ermöglichte als erste eine Niveauregulierung. Außerdem entschärft sie den Zielkonflikt zwischen Fahrsicherheit und Fahrkomfort, da sie selbst bei stärker beladenen Fahrzeugen eine günstigere Aufbau-Eigenfrequenz herbeiführt als eine herkömmliche Stahlfederung und damit die Radlastschwankungen reduziert. Andererseits galt die Hydropneumatik lange als wartungsintensiv und ist heute noch deutlich komplexer als eine Stahlfederung – vor allem in der Fertigung und Montage. Hinzu kommt, dass aktive Regelfunktionen bei der Hydropneumatik nur mit relativ hohem Aufwand zu realisieren sind und herkömmliche Stahlfederungen durch adaptive Dämpferregelungen inzwischen auch einen guten Komfort bieten.
Die Luftfederung scheint da bessere Zukunftsaussichten zu haben, sieht man ihre Marktposition an…
Auch die Luftfederung bietet die Möglichkeit einer Niveauregulierung und eine gleichbleibende Aufbau-Eigenfrequenz selbst bei stärkerer Beladung. Das macht sie auch für Nutzfahrzeuge sehr interessant. Zudem ist das Medium Luft leichter zu handhaben als eine Hydraulikflüssigkeit und Leckage damit ein deutlich weniger kritisches Thema. Für die Luftfederung spricht auch, dass durch Leichtbau die Differenz zwischen Fahrzeugleer- und -gesamtgewicht tendenziell größer wird. Trotz dieser relativ größeren Zuladung kann eine Luftfederung die Aufbau-Eigenfrequenz eines Fahrzeugs sehr gut konstant halten. Deshalb vermute ich, dass die Luftfederung verstärkt Top-Down in volumenträchtigere Fahrzeugsegmente vorstoßen wird.
Bis hin zur Mittelklasse oder gar ins Kompaktsegment?
Natürlich ist die Luftfederung für die Mittelklasse oder gar das Kompaktsegment ein kostensensibles Thema. Diese Grundregel könnte aber in Nordamerika außer Kraft gesetzt werden. Dort werden neue OEM möglicherweise gesteigerten Wert auf Fahrkomfort legen, sodass man selbst bei nicht so großen, dafür aber leichten Fahrzeugen mit hoher relativer Zuladung eine Luftfederung vorfinden könnte.
Wie schätzen Sie das weitere Entwicklungspotenzial der Steer-by-Wire-Technik ein?
Das automatisierte Fahren wird dieser Technik einen Schub geben, da es ohnehin eine gewisse Redundanz im Lenksystem verlangt. Diese zweite Sicherheitsstufe – ob es nun ein zweiter Lenkaktuator oder eine zweite Wicklung in der E-Maschine ist, sei mal dahingestellt – wird heute oft noch als Kostenhindernis für Steer-by-Wire angeführt, in Zeiten des automatisierten Fahrens aber selbstverständlich werden.
Wird die Elektrifizierung und Automatisierung des Fahrens weitere gravierende Änderungen bei Fahrwerkssystemen bringen?
Auf der IAA 2015 war ein Technologieträger von ZF zu sehen, der durch ein neues Fahrzeugpackage und eine innovative Vorderachse Lenkwinkel von bis zu 75 Grad ermöglicht. Enabler ist dort ein elektrischer Hinterachsantrieb, der den bauraumeinschränkenden Verbrennungsmotor im Vorderwagen ersetzt. Auch die Steer-by-Wire-Technik kann für jedes der einzeln gelenkten Vorderräder sehr große Lenkwinkel ermöglichen. Am ika haben wir an einem Forschungsfahrzeug sogar Lenkwinkel von 90 Grad realisiert. Dieses Layout mit Hinterachsantrieb – auch per Verbrennungsmotor – und sehr großen Lenkwinkeln an den Vorderrädern bildet meiner Ansicht nach ein Kosten-Nutzen-Optimum. Wer noch mehr Kundennutzen will, könnte noch ein Torque Vectoring-System an der Hinterachse hinzufügen.
Ist dieser größere Lenkwinkel nur bei antriebslosen Vorderrädern möglich oder wäre das auch beispielsweise mit Radnabenmotoren realisierbar?
Ab einem gewissen Lenkwinkel ist man auf Radnabenmotoren oder sehr radnahe Antriebe angewiesen, sofern man die gelenkte Achse antreiben möchte. Das würde aber die Komplexität des Gesamtsystems im Vergleich zu einer antriebslosen mechanischen Lenkung nochmals deutlich erhöhen. Angesichts möglicher neuer Player im Automobilbau möchte ich dieses Szenario aber nicht definitiv ausschließen.
Welche Marktchancen sehen Sie für Radnabenmotoren?
Radnabenmotoren bieten durch ihre Kompaktheit viele Freiheiten für neue Fahrzeugkonzepte, auch wenn sie hinsichtlich der Kosten und des Fahrkomforts Nachteile aufweisen. Sie machen beispielsweise dann Sinn, wenn spezielle Fahrzeugeigenschaften, etwa ein extrem tief liegender Ladeboden, gefordert sind. Das ist mit herkömmlichen Hinterachsen – mit oder ohne Antrieb – nicht ohne weiteres möglich. Man sollte die europäische Perspektive nicht überbetonen. In Ländern wie China werden etwa Radnabenmotoren aus dem Zweiradbereich sehr pragmatisch als Antrieb eingesetzt und ermöglichen so völlig neue Kleinstfahrzeuge. Mit einer pfiffigen Regelung sind damit ganz attraktive Fahreigenschaften darstellbar.
Lenkbare Hinterräder würden die Wendigkeit nochmals verbessern. Stehen dann Aufwand und Ertrag noch in einem sinnvollen Verhältnis?
Natürlich könnte man auch die Hinterräder deutlich stärker als bei einer aktuellen Hinterradlenkung lenken. Die damit darstellbare extreme Wendigkeit würde aber vermutlich den Fahrer bei der Umfeldkontrolle überfordern. Zudem könnte sie mit einem herkömmlichen Lenkrad nicht mehr adäquat gesteuert werden. Insgesamt erkenne ich nur einen begrenzten zusätzlichen Kundennutzen durch in weiten Grenzen lenkbare Hinterräder, allenfalls im urbanen Raum. Mittelfristig könnte sie eine Nischenanwendung bleiben.
Werden sich in absehbarer Zeit neue Werkstoffe im Fahrwerk durchsetzen?
Zunächst bieten herkömmliche Werkstoffe noch einige „low hanging fruits“, die man relativ leicht ernten kann. Das Konsortium „Massiver Leichtbau“ beispielsweise entwickelt die Massivumformung von Eisen- und Stahlwerkstoffen so gezielt weiter, dass etwa bei den Radträgern und den Radnaben noch Masse im Kilogrammbereich eingespart wird. Gleichwohl bieten neue Werkstoffe ebenfalls große Einsparpotenziale, etwa Schraubenfedern aus GFK. Allerdings zu bisher noch recht hohen Kosten, sodass diese Innovationen aktuell auf die höheren Fahrzeugsegmente beschränkt bleiben. Insgesamt sehe ich die Karosserie bei Themen wie Leichtbau und Mischbauweise etwas weiter als die Domäne Fahrwerk. Allerdings verfügt das Fahrwerk über ein erkleckliches sekundäres Leichtbaupotenzial, das bei etwa 30 Prozent liegt. Sprich, 100 Kilogramm weniger Masse bei der Karosserie ziehen 30 Kilogramm Einsparmöglichkeiten beim Fahrwerk nach sich. Das gilt es in Zukunft zu heben.
Was uns unweigerlich zur Frage führt: Stahl oder Aluminium?
Natürlich liegt bei der reinen Massebetrachtung Aluminium vor Stahl. Allerdings sind aus Kosten-Nutzen-Sicht oft höherfeste Stahlsorten im Vorteil. Die Materialwahl wird auch in Zukunft wohl von vielen Faktoren wie Fahrzeugkonzept, Zielmärkten, Kosten, Leichtbauzielen, Werkstoffeigenschaften, Produktionsvolumen und Marketingaspekten beeinflusst werden. Dabei kann es durchaus zu Mischbaukonzepten kommen, wo Fahrwerkskomponenten aus unterschiedlichen Werkstoffen ein Gesamtsystem bilden.
Sind bei ausgereiften Systemen wie ABS und ESP noch deutliche Fortschritte zu erwarten?
Es besteht derzeit das Paradoxon, dass ein ESP die von Assistenzsystemen desselben Fahrzeugs erfassten Umfelddaten nicht nutzen kann – weil die Systeme nicht hinreichend miteinander vernetzt sind. Ein „sehendes ESP“ könnte die Umfelddaten mit der Lenkwinkelvorgabe des Fahrers abgleichen und gegebenenfalls Korrekturen vornehmen. Diese Datenzusammenführung muss und wird in den nächsten Jahren im Zuge des automatisierten Fahrens kommen. Parallel dazu ist die Vernetzung des ESP mit dem elektrischen Antrieb geboten, um die Längs- und Querdynamik nicht nur durch Bremseingriffe zu regeln, sondern durch Rekuperationsphasen der Elektromotoren die Fahrsicherheit mit Energieeffizienz intelligent zu verknüpfen. Außerdem könnte das ESP der Zukunft nicht mehr nur punktuell eingreifen, sondern – etwa in Verbindung mit Steer-by-Wire – kontinuierlich regeln.
Zur Person
Lutz Eckstein (46) studierte Maschinenwesen an der Universität Stuttgart und promovierte dort zum Thema Fahrzeugführung und -regelung. Ab 1999 arbeitete er bei der damaligen Daimler-Benz AG in den Themenfeldern Fahrdynamik, Fahrerassistenzsysteme und Integrale Sicherheit. 2005 wechselte Eckstein als Abteilungsleiter Anzeige- & Bedienkonzept und Ergonomie zu BMW. 2010 wurde er zum Leiter des Lehrstuhls und des Instituts für Kraftfahrzeuge an der RWTH Aachen berufen. Daneben ist er in mehreren Beiräten und Gremien im Bereich der Automobilentwicklung aktiv.
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