KEM Konstruktion: Advanced Driving Assistance Systems (ADAS) sind die Basis für das autonome Fahren. Sie gehören daher zu den Megatrends in der Automotive-Industrie. Wie positioniert sich Valeo im Bereich fortschrittlicher Fahrassistenzsysteme?
Joachim Mathes: Wir erwarten, dass im Jahr 2025 weltweit fast drei Viertel aller Neufahrzeuge mit einem Fahrerassistenzsystem ausgestattet sein wird, bis 2030 steigt diese Quote auf nahezu 90%. Der größte Anteil daran wird auf sogenannte Level-2-Systeme entfallen, was bedeutet, dass der Fahrer die Längs- und Querführung delegieren kann, aber weiterhin in der Verantwortung bleibt. Wir konzentrieren uns auf dieses stark wachsende Marktsegment und entwickeln hier eigene Marktmodelle. Über die Jahre haben wir uns beispielsweise eine führende Marktposition im Bereich Parken erarbeitet. Zuerst, 1991 mit der ‚Park Distance Control‘ im 7er BMW als rein anzeigendes System, später dann 2007 mit dem ersten Park4U-System im VW Touran, welches das Auto auch automatisch in die Lücke bugsiert. Auch in diesem Bereich geht die Entwicklung weiter, bis hin zum fahrerlosen Betrieb nach Level 4. Inzwischen ist Valeo aber auch bei Systemen der aktiven Sicherheit und dem assistierten und automatisierten Fahren führend. Insbesondere bei den Kamerasystemen und zentralen Steuergeräten wachsen wir deutlich stärker als der Markt. Diesbezüglich haben Valeo und die BMW Group eine Zusammenarbeit beschlossen, in deren Rahmen wir die ADAS-Domain-Controller, Sensoren und Software für das Einparken und Manövrieren für die kommende modulare Plattformgeneration „Neue Klasse“ für BMW-Elektrofahrzeuge liefern werden. Diese soll 2025 auf den Markt kommen. Wir werden den Domain-Controller entwickeln und produzieren, der in der Lage ist, alle Datenströme von allen ADAS-Sensoren in den Fahrzeugen der BMW Group auf Basis der Plattform „Neue Klasse“ zu verwalten. Alle Fahrassistenzfunktionen werden vom Domain-Controller gehostet und verarbeitet und dieser wiederum basiert auf Qualcomm Snapdragon SoCs (System on a Chip). Der Domain-Controller wird die Software-Plattform von Valeo für langsame Fahrmanöver sowie die Software von BMW und Qualcomm für die Fahrautomatisierung beherbergen. Die BMW-Plattform wird auch die nächste Generation unserer Ultraschallsensoren, die komplette Palette der Surround-View-Kameras sowie eine neue multifunktionale Innenraumkamera enthalten, die zu einer verbesserten Sicherheit beitragen und ein neues Nutzererlebnis schaffen.
KEM Konstruktion: Welche Komponenten und Systeme benötigen Advanced Driving Assistance Systems?
Mathes: Grundsätzlich lässt sich ein einfaches Level-2-System bereits rein kamerabasiert darstellen. So macht es zum Beispiel Tesla. Auch wir haben solch ein kostengünstiges System seit 2020 auf der Straße. Aber je mehr Situationen das System beherrschen soll und je mehr Verantwortung der Fahrer abgibt, desto mehr Aufwand muss natürlich hard- und softwareseitig betrieben werden. So nutzen alle Level-3-Systeme, die derzeit auf der Straße sind, unsere Laserscanner Scala 1 und 2 für die Automobilindustrie, und wir sehen diese Logik (Level 3 = Laserscanner) in allen Märkten bestätigt. Denn diese neue Generation von LiDAR-Laserscannern bietet ein verbessertes vertikales Sichtfeld und eine größere Winkelauflösung. Der Laserscanner ist ein Schlüsselfaktor für ADAS- und automatisierte Fahranwendungen. Je mehr Sensoren genutzt werden, desto sinnvoller wird natürlich die Nutzung einer zentralen Recheneinheit, in der alle Informationen zusammenlaufen und in Echtzeit verknüpft werden. Aus diesem Grund wird sich die Fahrzeugarchitektur in den kommenden Jahren erheblich weiterentwickeln, um den Anforderungen autonomer, vernetzter und elektrischer Fahrzeuge gerecht zu werden. Solch eine neue Architektur werden viele Hersteller in den nächsten Jahren in ihren neuen Fahrzeugen auf die Straße bringen. Sogenannte Zonen-Steuergeräte werden die Nervenzentren dieser neuen Fahrzeugarchitekturen sein, echte Schaltzentralen für Konnektivität, Datenübertragung und -konsolidierung sowie für die Zentralisierung elektronischer Steuerungen. Auch Valeo ist hier aktiv: Zusammen mit Leoni, einem weltweit führenden Anbieter von Bordnetz-Systemen und Leistungsverteilung, streben wir eine führende Position auf dem Gebiet der Zonensteuerungen an. Die Technologie ist hochmodern und leicht zu integrieren und wird somit den Herausforderungen künftiger Fahrzeuggenerationen gerecht.
KEM Konstruktion: Funktionelle Software, die alle aktiven Sicherheitsfunktionen bereitstellt, ermöglicht eine Automatisierung auf Stufe 2+ und höher. Können Sie das näher erklären?
Mathes: Während früher die Hardware im Vordergrund stand, und eine neue Funktion immer an eine zusätzliche Hardware gebunden war – zum Beispiel: Fahrspurerkennung, wir bauen eine Kamera ins Auto; Totwinkelüberwachung, wir bauen zwei Radarsensoren ein – geht es heute darum, die Informationen der bereits verbauten Sensoren intelligent zu verknüpfen. Das funktioniert besonders gut, mit der eben angesprochenen zentralen Recheneinheit. Wir bieten zusätzlich und unabhängig von der Hardware ein komplettes Software-Paket an. Das beginnt mit der Objekterkennung durch die verschiedenen Sensoren, die dann fusioniert und in ein zentrales Umfeldmodell überführt wird. Dort wird auch die Bewegung des eigenen Fahrzeugs mit allen anderen Verkehrsteilnehmern und der Infrastruktur korreliert. Auf dieser Basis können wir dann warnende Systeme ebenso aufbauen wie die angesprochene Automatisierung auf Level 2+ oder darüber. Dieser sogenannte Software-Stack ist modular aufgebaut und erlaubt eine kontinuierliche Weiterentwicklung der einzelnen Module, damit Erkenntnisse aus laufenden Projekten auch direkt in zukünftige Entwicklungen einfließen.
KEM Konstruktion: Valeo hat auf der IAA 2021 den Prototyp des autonomen Fahrzeugs Valeo Drive4U der Autonomiestufe L4 vorgestellt. Welche Systeme von Valeo sind in diesem Fahrzeug verbaut, um diese Autonomiestufe zu erreichen?
Mathes: Unser Drive4U-Prototyp ist sozusagen die maximale Ausbaustufe dieses Software-Stacks. Wir nutzen Elemente aus unserer Seriensoftware, haben aber weitere Module hinzugefügt beispielsweise zur präzisen Lokalisierung in einer aus der Flotte erzeugten LiDAR-Karte. Dabei handelt es sich unter anderem um das System Drive4U Locate, das die Position des Fahrzeugs auf der Straße zentimetergenau bestimmt, während die Fehlermarge bei einem herkömmlichen GPS-System bis zu 5 m beträgt. Zudem haben wir auch künstliche Intelligenz in den Prototypen integriert. Das System Valeo MovePredict.ai ist spezialisiert darauf, Personen zu erkennen. Damit lassen sich Bewegungen, die Gehrichtung und auch Absichten der Personen auswerten. All dies trägt zu einer Verbesserung der Sicherheit bei. Besonders stolz sind wir darauf, dass die im Fahrzeug genutzten Sensoren alle aus unserer Serienproduktion stammen, einschließlich der Laserscanner. Drive4U nutzt eine redundante Rundumerkennung aus Kamera-, Radar-, LiDAR- und Ultraschallsensoren.
KEM Konstruktion: Unter dem Stichwort ‚Beschleunigung von ADAS‘ will Valeo in den nächsten 5 Jahren 1,5 Mrd. Sensoren verkaufen. Ein ambitioniertes Ziel. Werden so viele Sensoren überhaupt benötigt – und adressieren Sie nur den Pkw-Markt oder auch den Bereich Mobiler Maschinen?
Mathes: Die eingangs geschilderten Markttrends und die bereits gewonnenen Aufträge machen uns sehr sicher, dass diese Prognose realistisch ist (3 Mrd verkaufte Sensoren insgesamt bis 2027). Tatsächlich ist der Schwerpunkt in diesem Zeitraum weiterhin der Pkw-Bereich. Wir arbeiten natürlich auch an Systemen für fahrerlose Fahrzeuge, zum Beispiel in unserer Kooperation mit Navya, allerdings werden solche Shuttles und Robotaxis in den nächsten 5 Jahren keinen entscheidenden Beitrag zum Volumen leisten, das sind wichtige Technologieträger. Auch Sonderfahrzeuge und Landmaschinen sind ein interessantes Segment, daher bieten wir unser Mobility Kit – es umfasst Sensoren, elektronische Steuergeräte und Algorithmen und kann auch um Software für Sensor-, Lokalisierungs- und Steuerungstechnik ergänzt werden – für die Automatisierung an. Diese Bereiche spielen aber in Bezug auf das Marktvolumen eine untergeordnete Rolle.
KEM Konstruktion: Experten erwarten, dass bis zum Jahr 2030 90 Mio. automatisierte Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein werden. Die dafür benötigten Fahrerassistenzsysteme werden enorme Mengen an Daten erzeugen. Wie lassen sich aus dieser Datenflut die sinnvollen Informationen herausfiltern?
Mathes: Hier möchte ich zwischen privat und gewerblich genutzten Fahrzeugen unterscheiden. Ein fahrerloses Taxi wird permanent elektronisch überwacht und sendet eine große Menge Daten in Echtzeit an den Betreiber, während ein noch größeres Volumen im Fahrzeug gespeichert und für eine Offline-Analyse zur Verfügung steht. Das ist natürlich auch eine Frage der Ursachenfindung im Falle eines Unfalls. Wir gehen davon aus, dass 2030 die Mehrheit der Fahrzeuge nach wie vor privat genutzte Pkw sein werden. Allein die Kosten der Datenübertragung stehen hier einer breitbandigen Lösung wie bei Robotaxis im Wege. Sinnvoll ist es aber, Systemstörungen zu protokollieren, und die Nutzung der Assistenzsysteme im Feld besser zu verstehen. Dazu sind nur jeweils wenige Kilobytes notwendig. Spannend ist darüber hinaus auch das “Crowd-sourcing” von Kartendaten. In diesem Bereich sind wir mit unserem Partner Mobileye aktiv. Hier werden aus dem Videostrom der Frontkamera einzelne Merkmale, oder Landmarken herausgerechnet und über die Flotte aggregiert. So lassen sich stets aktuelle HD-Karten erzeugen.
KEM Konstruktion: Innerhalb des Bereichs Comfort & Driving Assistance Systems haben Sie sich darüber hinaus die Neuerfindung des Innenraumerlebnisses auf die Fahnen geschrieben. Was muss man sich darunter vorstellen?
Mathes: Neben dem Komfort wird in Zukunft das individuelle Nutzererlebnis stärker in den Vordergrund rücken. Hier sind wir mit den Herstellern im Austausch über smarte, konfigurierbare Oberflächen, sowie innovative Konzepte, die alle Sinne ansprechen. Wir sind alle ständig online, sei es in sozialen Netzwerken, sei es das Streaming von Musik oder anderen Medien. Wie gerade besprochen sind auch die Fahrzeuge zukünftig mit der Cloud verbunden. Das hat die erwähnten technischen Gründe, bietet aber auch den Passagieren neue Möglichkeiten. Ein Beispiel hierzu ist die Panorama-Technologie VoyageXR. Diese bietet eine Drohnensicht und das ganz ohne Drohne. Konkret ist auf einem Display – als 360°-Ansicht in 3D – zu sehen, wie sich das Fahrzeug auf der Straße fortbewegt. Ganz so, als würde es von einer Drohne gefilmt, die über ihm schwebt. Diese Drohne gibt es jedoch nicht. So reist man per Bildschirm durch die Landschaften, durch die das Auto fährt, auch wenn man sich kilometerweit davon entfernt befindet. Dank dieser Konnektivität können nicht im Auto befindliche Personen die Umgebung des Fahrzeugs in 360-Grad-Augmented-Reality mit nur einem Tablet sehen, sogar vom anderen Ende der Welt aus. Und mit einem Wisch können sie die „Drohne“ steuern, die über ihr Auto fliegt. Diese Technologie kann auch beim Einparken oder Fernsteuern von autonomen Fahrzeugen helfen.
Mehr Informationen zu den Scala-LiDAR-Scannern von Valeo (engl.):
Kontakt:
Valeo GmbH
Valeostr. 1
74321 Bietigheim-Bissingen
Tel. +49714273-0
info@valeo.com
www.valeo.com/de
Bild: Valeo
Future Mobility im Fokus
Valeo entwickelt Technologien, die den Wandel hin zu saubereren, sichereren und intelligenteren Mobilitätslösungen vorantreiben. Das Unternehmen ist weltweit führend bei der Fahrzeugelektrifizierung und bei Fahrassistenzsystemen (oder ADAS). Diese beiden Märkte werden in den kommenden Jahren das größte Wachstum erfahren, insbesondere aufgrund von strengeren Vorschriften und verstärkten Bestrebungen hin zu sicheren und umweltfreundlichen Mobilitätslösungen.
Im Jahr 2020 hat das Unternehmen 12 % des Erstausrüstungsumsatzes für Forschung und Entwicklung aufgewendet – dieser Anteil entspricht eher dem namhafter Technologie-Giganten als dem vergleichbarer Wettbewerber aus der Automobilbranche. Die Gruppe beschäftigt 20.000 F&E-Mitarbeiter (gegenüber 6.000 im Jahr 2009).