Manche Zeitgenossen kommen sich vor wie an Weihnachten, wenn sie den SLS sehen, probesitzen oder sogar mitfahren dürfen. Anderen entlockt der neue Supersportler von Mercedes-Benz nur ein verständnisloses Kopfschütteln. Denn es gibt mindestens einhundert rationale Argumente, den Retro-Sportwagen zu kaufen. Aber genauso viele Gründe, ihn nicht zu kaufen.
Der Autor und Testwagenfahrer Jürgen Goroncy ist freier Mitarbeiter der KEM
Die wichtigste Erkenntnis der KEM-Testfahrer: Wer mit dem SLS AMG nach Hause kommt, ist noch lange nicht im Haus. Denn sobald der mächtige V8 in die Garageneinfahrt bollert, stehen die Nachbarn schon da. Aber nicht der Leistung, der Höchstgeschwindigkeit oder dem Preis gelten ihre Fragen. Sobald sie den Flügeltüren gewahr werden, steht das Diskussionsthema fest. Noch nie hatte die KEM-Redaktion ein Testfahrzeug, bei dem so sehr eine Funktion hervorstach. Liegt es an der Technik selbst? Oder der Tatsache, dass Mercedes vor mehr als 50 Jahren schon einmal bei einem SL mit Flügeltüren das Autopublikum lockte?
Faszination des Flügels
Egal, ob jung oder alt, alle bestaunen den ungewöhnlichen Aus- und Einstieg. Wobei das Herausschwingen aus dem Sitz über den hohen Schweller noch die leichtere Übung sein dürfte. Es gelingt mit etwas Schwung, auch wenn Damen mit Minirock schon einfallsreich sein müssen. Viel interessanter ist die Frage: Wie sollen kleinere Personen die hoch oben schwebende Flügeltür zumachen? Hier wäre eine Schlaufe hilfreich. Größere Personen haben ein ganz anderes Problem: Die Kabine des SLS ist knapp geschnitten. So knapp, dass die Ingenieure extra zwischen den seitlichen Türholmen und dem massiven mittleren Längsträger eine Vertiefung in die Dachhaut integrierten. Dort ragt der Kopf hinein, was nicht gerade luftig wirkt.
Sprengstoffkapseln schaffen Luft
Einer anderen, bangen Frage hat Mercedes-Benz vorgebeugt: Was passiert, wenn der SLS nach einem Unfall auf dem Dach liegt und die Flügeltüren nicht mehr zu öffnen sind? Dann sprengen zwei kleine Sprengstoffkapseln die Scharniere am Dach weg, die Flügeltüren sind, so Daimler, einfach rauszuziehen. Für die erforderliche Steifigkeit des Fahrzeugs sorgt übrigens eine Aluminiumkarosserie in Space-Frame-Technik (Audi lässt grüßen).
Kommen wir zum Antrieb. Der 6,2-Liter V8-Motor thront in der überlangen Frontpartie des SLS und bollert herrlich in Basslage los. So schön, dass der Nachbar bittet, ihn am nächsten Morgen damit aufzuwecken. Ein kurzer Gasstoß nach dem Anlassen, es hat funktioniert. Auch auf der Straße recken die Passanten unwillkürlich den Kopf und lauschen dem SLS hinterher. Dieser akustischen Potenz steht die fahrdynamische in nichts nach. Unter sonorem Dröhnen schiebt der V8 mit 420 kW Leistung und 650 Nm Drehmoment die 1,7 t Masse mit Schmackes nach vorn. Das Siebengang-Doppelkupplungsgetriebe von Getrag zeigt sich dieser puren Kraft gewachsen und überzeugt mit gut abgestimmten und schnellen Gangwechseln. Ein kleiner Drehknopf lässt die Wahl zwischen mehreren Fahrmodi und einer sportlichen Anfahrvariante – geschenkt, es geht immer stürmisch nach vorn.
Wer 11 000 € locker macht, kann den SLS anschließend mit Keramikbremsscheiben wieder bändigen. Die Serien-Bremsanlage tut es auch. Ebenso wie das Fahrwerk, das im Alltag nicht aus der Ruhe zu bringen ist. Präzise Lenkung, guter Geradeauslauf, souverän in den Kurven. Das dreistufige ESP haben wir nicht ausgeschaltet, aus Respekt vor den Kräften des Hecktrieblers. Kritikpunkte an den Fahreigenschaften sind lediglich die harte Basisabstimmung von Federn und Dämpfern und der große Wendekreis.
Zur Breite von Autobahnen
Im KEM-Test erreichte der SLS einmal Tempo 270, bevor die Autobahn für den Geschmack des Fahrers dann doch zu schmal wurde. Die versprochenen 317 km/h lassen sich natürlich nur mit etwas Anlauf erreichen. Wir glauben mal den Werksangaben. Ungeachtet dessen reizt der agile Saugmotor natürlich zu genussvollen Beschleunigungsvorgängen, die – besonders in Tunneln – akustisch was hermachen.
Bei diesem Spaß sollte man die Kraftstoff-Verbrauchswerte vergessen. Nach etwa 800 Testkilometern standen 15,6 l/100 km zu Buche. Das ist akzeptabel, da der SLS nie besonders spritsparend bewegt wurde. Nach knapp 600 km ist dann ein Tankstopp angesagt, der Fahrer braucht schon früher eine Pause. Ist er doch versucht, dem ständigen akustischen Locken des Antriebs nachzugeben. Der Führerschein ist immer latent in Gefahr, da selbst das gefühlt langsame Hineinrollen in eine Ortschaft sich beim Blick auf die gut ablesbaren Instrumente als Tempo 70 oder 80 entpuppt.
Die Begeisterung je nach Ansicht
Nur etwa doppelt so groß als der 85-Liter-Tank ist das Gepäckfach mit 176 l Volumen. Das reicht gerade für den Wochendausflug. Aber: Was ist der SLS? Sicher kein Reisemobil. Seine Domäne ist der kurze harte Ritt, an dessen Ende man etwas erschöpft aber sehr glücklich aus dem Sitz krabbelt. Schwach wird der Interessent auch beim Preis: 186 830 € sind gar nicht mal überteuert für diese Fahrmaschine. Aber jeweils mehr als 11 000 € Aufpreis für die Keramikbremsen und die Silberlackierung, 7000 € für die prächtig klingende Bang & Olufsen-Soundanlage, knapp 4000 € für die Schalensitze sowie weitere Kleinigkeiten katapultieren die Ablösesumme schnell weit jenseits der 200 000-Euro-Marke.
Dafür erhält der Käufer jede Menge Faszination, Fahrdynamik und den einzigartigen Flügeltür-Auftritt vor dem Straßencafe. Der Realist spürt hingegen jeden Lendenwirbel, sieht das für einen Sportwagen etwas unpassende Serieninterieur anderer Mercedes-Modelle, hasst das in seinen Ohren krawallige Fahrgeräusch, die naive Begeisterung und die ewig gleichen kindlichen Fragen zu den Flügeltüren. Wie gesagt, alles Ansichtssache. Die KEM-Testredaktion hat jedenfalls genug gesehen und auch gezeigt.
Daimler; Telefon: 0711 17-0; E-Mail: dialog@daimler.com
Mehr zum Thema Kfz-Tests
Teilen: