Auf Umfeldsensorik basierende Fahrerassistenzsysteme zur Vermeidung von Unfällen werden aktiv, wenn der Fahrer bei einer drohenden Kollision nicht angemessen reagiert. Um Energie aus dem Fahrzeug zu nehmen, muss das Bremssystem möglichst früh und dynamisch eingreifen. In der Zusammenarbeit von Bremse und Umfeldsensorik steckt daher weiteres Potenzial für die Sicherheit.
Die Autoren: Dr. Hans-Jörg Feigel, Leiter Entwicklung zukünftige Bremssysteme im Geschäftsbereich Elektronische Bremssysteme, Frankfurt/Main, und Wolfgang Fey, Leiter Forschung & Entwicklung im Geschäftsbereich Fahrerassistenzsysteme (ADAS), Lindau, Continental Automotive Group, Division Chassis & Safety
Wie kann man Einfluss auf das Unfallgeschehen nehmen? Entscheidend für die Antwort ist der Zeitfaktor: Je früher und schneller die Vollverzögerung mithilfe der Assistenzsysteme erreicht werden kann, desto besser die Schutzwirkung. Entweder lässt sich der Unfall vermeiden oder die Kollisionsgeschwindigkeit sinkt zumindest deutlich. Daraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen:
- Eine schnellere Umfeldsensorik mit größerer Reichweite ermöglicht eine frühe Aktivierung der Bremseingriffe.
- Nur ein hoch dynamisches Bremssystem erreicht die Vollverzögerung in kurzer Zeit, um damit letztlich eine maximale Schadensreduzierung zu erzielen.
Aktuelle Notbremsassistenzsysteme sind bereits wirksamer als die ersten Bremsassistenten. Sie bremsen autonom, wenn der Fahrer nicht reagiert. Da menschliches Versagen – vor allem Ablenkung [1] – die Hauptursache für Unfälle ist, konzentrieren sich die Anstrengungen auf autonome Bremsvorgänge.
Integriertes Bremssystem für mehr Dynamik
Bei den heutigen Bremssystemen ist Hydraulik mit den Komponenten Betätigung, Bremsdruckmodulation (ABS/ESC) sowie vielfach eine Vakuumpumpe Standard. Für hoch dynamische Bremsanforderungen kann die Hydraulikpumpe allerdings zum Engpass werden, denn vor dem Druckaufbau muss die Pumpe Bremsflüssigkeit ansaugen. Je tiefer die Umgebungstemperatur ist, desto stärker wirkt sich dieser Effekt aus.
Für dynamische Bremsvorgänge bietet daher das integrierte Bremssystem MK C1 von Continental Vorteile. Hier sind Betätigung und Modulation in einem kompakten Aggregat integriert [2]. Bei diesem elektro-hydraulischen Bremssystem erfolgt der Druckaufbau besonders schnell und absolut pulsationsfrei: Innerhalb von 150 ms wird mit dem MK-C1-Bremssystem ein Fahrzeug mit mehr als 2 t Gewicht maximal verzögert und die Geschwindigkeit in entsprechend kurzer Zeit reduziert.
Wenn man bedenkt, dass die Unfallschwere quadratisch von der Kollisionsgeschwindigkeit abhängt, dann ist dieser Zeitgewinn kostbar. In erster Linie soll er Verletzungen verhindern oder abmildern. Darüber hinaus hat ein früheres Einbremsen aber auch eine wirtschaftliche Dimension: Viele Sachschäden ließen sich vermeiden oder reduzieren, wenn das Fahrzeug schneller verzögert würde. Bei dieser Unfallart kann man zu Recht nach den Kosteneinsparungen pro Zehntelsekunde früherer Vollbremsung fragen. Im Jahr 2011 beispielsweise wurden den Versicherungen in Deutschland 9,6 Mio. Schadensfälle gemeldet, die von den Versicherungen mit einer Schadenssumme von 20,7 Mrd. Euro ausgeglichen wurden [3]. Bei einer durchschnittlichen Fahrzeug-Lebenszeit von zwölf Jahren ergibt sich damit ein statistischer Schadensregulierungsaufwand von etwa 4040 Euro pro Fahrzeug.
Die Unfallforschung der deutschen Versicherungswirtschaft sieht in den Notbremsassistenzsystemen einen großen Hebel, Anzahl und Schwere der Schäden signifikant zu reduzieren [4]. Auch wird bereits jetzt eine deutliche Reduzierung der Schäden nach Einführung des City-Safety-Systems (mit SRL-Sensor von Continental) im Volvo XC60 sichtbar, sodass eine für den Fahrzeughalter spürbare Senkung der Versicherungsprämie für solche Fahrzeuge eine logische Folge ist [5]. Die hier vorgestellten Notbremssysteme werden die Wirksamkeit noch einmal deutlich erhöhen.
Reichweite und Dynamik der Gefahrenerkennung
Ein autonomer Bremsvorgang setzt eine Umfeldsensorik voraus, die Hindernisse zuverlässig und schnell erkennt. Zu den Technologien gehören vor allem Radar, Lidar (Light Detection And Ranging, Infrarot) und (Stereo-)Kameras. Reichweite und Dynamik der Gefahrenerkennung des Sensors haben große Relevanz für die Geschwindigkeitsreduzierung. Grundsätzlich gilt: Jeder Sensor bringt einen Zeitgewinn. Unterschiede zeigen sich dagegen bei der technisch möglichen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt der Gefahrenerkennung sowie bei den damit entstehenden Handlungsoptionen.
Im Geschwindigkeitsfenster von 30 bis 50 km/h schafft eine Integration von Monokamera (CMOS(Complementary Metal Oxide Semiconductor)-Kamera) und Short Range Infrarotsensor (Lidar) eine wirtschaftliche Basis für das autonome Bremsen mit bis zu 1g: Im SRL-CAM-Modul von Continental werden die Stärken der beiden Sensortechniken kombiniert: Die Kamera erkennt Objekte mit bis zu 60 m Reichweite, die SRL-Technologie plausibilisiert Objekte in bis zu 16 m Entfernung und misst die präzise Distanz. Damit entsteht z. B. für eine Differenzgeschwindigkeit von 50 km/h ein Zeitfenster von etwa 1,8 s für eine autonome kollisionsfreie Vollbremsung.
Die Reichweite der Monokamera lässt sich außerdem nutzen, um vor der Lidar-Plausibilisierung des Objekts die Bremse vorzukonditionieren. Ein SRL-CAM-Sensormodul in Kombination mit dem hoch dynamischen Bremssystem MK C1 kann im Einzelfall ein Fahrzeug rechtzeitig zum Stillstand bringen, während ein Referenzfahrzeug mit herkömmlichem Bremssystem unter gleichen Randbedingungen noch mit einer Durchfahrtsgeschwindigkeit von 38 km/h auf das Hindernis treffen würde.
3D-Sehen und 6-dimensionale Objektinformation
Ebenfalls bis zu 60 m Reichweite hat das Stereokamera-Modul von Continental. Im Vergleich zur SRL-CAM liefert die Stereokamera zudem einen deutlich höheren Informationsgehalt. Durch das stereoskopische „Sehen“ der beiden CMOS-Kameras im Modul lässt sich der Abstand zum Objekt auf bis zu 30 m Entfernung mit bis zu 20 cm Genauigkeit bestimmen. Hinzu kommt, dass die Stereokamera Objekte wesentlich genauer klassifizieren kann und deren Bewegungsdynamik auf allen drei Achsen misst. Sie erkennt beispielsweise atypische Fußgänger, wie Kinder oder Personen im Rollstuhl – selbst dann, wenn diese teilweise verdeckt sind, z. B. durch ein parkendes Auto.
Zusammen mit der Reichweite des Sensors entsteht so ein Zeitfenster, das alternativ zur autonomen Notbremsung die Berechnung eventueller Ausweichtrajektorien ermöglicht. Auch der Komfort profitiert, denn dank des längeren Zeitfensters kann sanfter eingebremst werden. Diese Beispiele zeigen, welche Möglichkeiten die Kombination aus Sensor und schneller Bremse eröffnet. Fazit: Die beste Schutzwirkung setzt immer beides voraus, eine hohe Bremsdynamik und den Wirkungsradius des Sensors.
Continental, Tel.: 069 7603-3076, E-Mail: hans-joerg.feigel@ continental-corporation.com
Literatur:
[1] Thomas Seidenstücker: „Ablenkung im Straßenverkehr – Die unterschätzte Gefahr“, VKU Verkehrsunfall und Fahrzeugtechnik 50 (2012), Studie der Unfallforscher im Allianz Zentrum für Technik (AZT)
[2] Dr. Hans-Jörg Feigel: „MK C1 – Eine neue Generation integrierter Bremssysteme“ XXXI. µ-Symposium, 26.10.2012, Bad Neuenahr, Fortschrittsberichte VDI, Reihe 12 Verkehrstechnik/Fahrzeugtechnik Nr. 759, ISBN-Nr.: 978-3-18-375912-5
[3] Statistisches Taschenbuch der Versicherungswirtschaft 2012, www.gdv.de
[4] Thomas Hummel, Matthias Kühn, Jenö Bende, Antje Lang: „Fahrerassistenzsysteme – Ermittlung des Sicherheitspotenzials auf Basis des Schadensgeschehens der Deutschen Versicherer“, 09/2011, ISBN-Nr.: 978-3-939163-37-4, www.udv.de
[5] „AEB – What is it?“, Thatcham research news, Edition 11/No. 4, www.Thatcham.org
[6] Burckhardt, M.: „Fahrwerkstechnik: Bremsdynamik und Pkw-Bremsanlagen“, Würzburg, Vogel-Verlag 1991
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