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Aus Lieferant wird Entwickler

Elektromobilität
Neue Geschäftsfelder für Schaeffler

Zulieferer entwickeln sich immer mehr vom Kleinteil-Spezialisten zu Konzeptschmieden. Schaeffler geht hier mit voran und baut inzwischen komplette elektrische Antriebsstränge. Dabei wandert auch das letzte Stück Kernkompetenz der OEMs in Richtung der externen Partner: der Motor.

Tobias Meyer, freier Mitarbeiter der KEM Konstruktion

Bislang argumentierten viele Automotive-Oberhäupter noch, ihre 100-jährige Erfahrung im Bau von Kraftfahrzeugen sei nicht einfach so aufzuholen. Spätestens aber seit Tesla quasi aus dem Stand durch die Decke ging und die bis dato als verschlafen und bieder geltende Elektromobilität nicht nur salonfähig sondern extrem hip machte, betrachtet man Neulinge im Feld nicht mehr so gelassen. Als Quereinsteiger muss man die Fahrzeugbau-Kompetenz schließlich nicht von Grund auf neu erwerben, man kann in großem Stil Mitarbeiter abwerben oder einfach mit klassischen Zulieferern arbeiten. Denn die Zeiten, in denen Automotive-Zulieferer nur Radlager oder Gummischläuche in die Fabriken brachten, sind längst passé. Inzwischen arbeiten die extern angesiedelten Unternehmen an eigenen Mobilitätskonzepten und könnten – so es denn nötig wäre – sogar komplette Autos bauen, da ihnen von den führenden OEMs die Kompetenz von Aufhängung, Bremsen, Lenkung und Antriebsstrang inklusive Elektronik längst zu großen Teilen anvertraut wurde. Hinsichtlich der Elektromobilität ist man ebenfalls weit vorne dabei – hier mussten sich die Autobauer fremde Hilfe organisieren, da man selbst nur Verbrenner bauen konnte. Als Zulieferer war es hier nicht schwer, diesen Schritt ebenfalls zu gehen, womit nun auch der (Elektro-)Motor in deren Portfolio steht. Möchte ein Technologiekonzern aus dem Silicon-Valley nun also kurzfristig ein Auto etablieren, müsste er sich nur noch um das Blechkleid kümmern, alles andere könnte er zukaufen.

So überraschte es nicht, dass auf der CES 2019 etwa Schaeffler mit mehreren Fahrzeugkonzepten aufwartete. Der Konzern bündelt seine Kompetenz in Sachen Elektromobilität seit Januar 2018 in einer eigenen Sparte, geleitet von Jochen Schröder: „Das Thema ist ja nicht ganz neu, der Prius von Toyota kam 1997, das ist über 20 Jahre her. Was jetzt gerade passiert – getrieben durch die erreichte Technologiereife und auch durch die Gesetzgebung weltweit – ist die Entwicklung hin zu wesentlich größeren Volumen, also heraus aus der Nische.“ Die Nachfrage nach E-Autos steige jährlich um 30 bis 50 %, so Schröder weiter. Bis zum Jahr 2030 prognostiziert der Schaeffler-Konzern, dass rund 30 % aller neu zugelassenen Pkw rein elektrisch angetrieben werden, 40 % von einem Hybridantrieb (also der Kombination von klassischem Verbrennungs- und Elektromotor). 70 % aller Pkw sollen also mindestens einen E-Motor unter der Haube haben. Daher arbeiten schon heute allein bei Schaeffler mehr als 1000 Entwickler an der Elektromobilität. Bis 2020 will man über 500 Millionen Euro in Forschung, Entwicklung und Produktion elektrischer Antriebseinheiten investieren. Der Standort in Bühl wurde als Entwicklungszentrum E-Mobilität und als Unternehmenszentrale Automotive OEM ausgewählt, bisher lag die im Mutterhaus in Herzogenaurach. Gestärkt wird der Standort Bühl mit einer 60-Millionen-Euro-Investition: Im September 2018 erfolgte der Spatenstich für ein Entwicklungsgebäude für rund 500 Personen, eine Kantine, ein großzügiger Konferenzbereich sowie Prototypenbau und Prüfstände sind geplant. Es sollen voraussichtlich 350 Arbeitsplätze, hauptsächlich im Bereich E-Mobilität, neu entstehen.

Antriebskomponenten für jeden Bedarf

Komponenten und Systemlösungen wie E-Achsen und Hybridmodule fertigt Schaeffler aber längst in Großserie. Ein Beispiel ist ein Getriebe speziell für E-Autos, von dem je eines an Vorder- und Hinterachse des neuen Audi E-Tron einen intelligent gesteuerten Allradantrieb ermöglicht: Im normalen Fahrbetrieb arbeitet nur der Elektromotor an der Hinterachse. Fordert der Fahrer mehr Leistung oder erkennt das System Schlupf an der Hinterachse, wird der Vorderachsantrieb zugeschaltet. Neben der akustischen Optimierung stellte vor allem der knapp bemessene Bauraum bei der koaxialen Antriebsarchitektur hohe Anforderungen an die Entwickler. Die Lösung fand sich in einem gestuften Planetenradsatz in Kombination mit einem Stirnraddifferenzial. Bei axialem Bauraumbedarf von 150 mm ermöglicht das Getriebekonzept ein Eingangsmoment von 400 Nm bei einem Gewicht von 16 kg. Das Konzept der Planetenrad-Bauweise übertrug man auch auf die achsparallele Antriebsvariante der Vorderachse. Das reduzierte Entwicklungszeit und -kosten. Wie die koaxiale Variante ist auch diese Bauform auf ein Eingangsmoment von 400 Nm ausgelegt und lässt sich mit einer optionalen Parksperre kombinieren. Die von Schaeffler entwickelte E-Achse kann allein eingesetzt werden oder einen bestehenden Vorder- oder Hinterachsantrieb zu einem vollwertigen Allradantrieb erweitern. Zusätzlicher Vorteil ist die radselektiv steuerbare Antriebsleistung: Durch das sogenannte Torque Vectoring, eine Drehmomentverteilung zwischen rechtem und linkem Rad, sollen Sicherheit, Fahrdynamik und Fahrkomfort erhöht werden. Das System ist in einem Verbrenner mit einem zentralen Motor-Antriebsstrang so nicht umsetzbar.

Und das ist nicht nur ein Leuchtturm, die Zahl der Kundenprojekte und Serienaufträge im Bereich der E-Mobilität nimmt stetig zu. Bereits seit Anfang 2018 werden 2-Gang-Getriebe für den asiatischen Markt produziert. Anfangs noch in Deutschland, Ende 2018 wurde die Produktionslinie aber nach Asien verlagert, um näher am Kunden zu sein. Im zweiten Quartal 2019 wird die Produktion eines Getriebes für einen deutschen Fahrzeughersteller starten: Bis zu 40.000 Getriebeeinheiten sollen hierfür im Werk in Herzogenaurach pro Jahr vom Band laufen. Zudem startet in den USA eine weitere Serie für eine Hybridanwendung. „Amerikaner fahren traditionell mit Wandler-Automatikgetriebe – und dafür sind wir einer der größten Hersteller. Da lag es nahe, hier den E-Antrieb direkt zu integrieren“, erklärt Schröder. Das Modul versetzt Hersteller in die Lage, auch große Fahrzeuge wie die in Übersee beliebten Pick-ups zu elektrifizieren. Die Technik passt zwischen Verbrennungsmotor und Getriebe und ist somit auch in bestehende Fahrzeugkonzepte integrierbar. Es ermöglicht sowohl eine Boost-Funktion als auch das „Segeln“ mit abgeschaltetem Verbrennungsmotor sowie rein elektrisches Fahren.

Eigener E-Motor

Aktuell ist das Herzstück – der E-Motor selbst – bei den Antriebskonzepten noch Technik von externen Firmen, künftig soll sie aber aus dem eigenen Haus kommen. Derzeit laufen bereits seriennahe Motoren auf den Prüfständen und man beschäftigt sich sehr intensiv mit der Industrialisierung. Denn zwischen voll funktionsfähigen Prototypen und einem in Massenproduktion herstellbaren Produkt liegt noch viel Entwicklungsarbeit. „Grundsätzlich ist ein E-Motor ein mechanisches Bauteil, darum ist das auch ein Element, das Schaeffler liegt: Stanztechnik, Wickeln, Schweißen, Biegen, drehende Elemente, Feinmechanik sind alles Dinge, die wir bereits in Großserie im Haus haben“, erklärt Schröder. Der perfekte E-Motor für die automobile Anwendung existiert seiner Ansicht nach aber noch nicht: „E-Motoren gibt es zwar seit über 100 Jahren, für diese Branche aber muss er auch in hohen Stückzahlen wirtschaftlich produziert werden und dabei eine sehr hohe Leistungsdichte und sehr hohe Effizienz – also wenig Gewicht – mitbringen. Und da ist schon noch Luft nach oben. Genau hier wollen wir antreten und nicht nur irgendwie mitspielen, sondern mit einem eigenen Motor den Benchmark setzen. Von unserer Seite war das von vornherein eine Neuinvestition und da wollten wir dann gleich das bestmögliche, was heute technologisch realisierbar ist.“

Daher entschied sich die Schaeffler-Gruppe bereits 2017 zur Akquisition von Compact Dynamics, einem Entwicklungsspezialisten von elektrischen Antriebskonzepten; im November 2018 unterschrieb man einen weiteren Vertrag über den Erwerb der Firma Elmotec Statomat mit Sitz in Karben bei Frankfurt am Main. Sie ist Hersteller von Fertigungsmaschinen für den Bau von Elektromotoren in Großserien und verfügt über Kompetenz im Bereich der Wickeltechnologie. Klaus Rosenfeld, Vorsitzender des Vorstands der Schaeffler AG: „Die Akquisition versetzt uns in die Lage, zukünftig die gesamte Industrialisierung des Elektromotorenbaus lückenlos im Unternehmen abzubilden und die letzte bestehende Technologielücke bei der Herstellung von Rotoren und Statoren zu schließen.“ Das inhabergeführte Unternehmen erwirtschaftete im Jahr 2017 einen Umsatz von rund 40 Millionen Euro und beschäftigt zurzeit rund 200 Mitarbeiter. Seit über 60 Jahren baut die Firma Fertigungsmaschinen für den Elektromotorenbau. Mit seinen individuell skalierbaren Wickeltechnologien hat sich das Unternehmen eine führende Position im Bereich der Herstellung von Elektromotoren erarbeitet. Insbesondere der Technologie der Stabwellenwicklung wird für die Elektromobilität mit Blick auf Leistungsdichte, Wirkungsgrad und effiziente Großserienfertigung viel Potential zugeschrieben. Wirklich beginnen will Schaeffler mit der Hochvolumenproduktion dann voraussichtlich um 2020 oder 2021.

Neue Mobilitäts- und Fahrzeugkonzepte

Bereits fahrbar ist das Forschungsfahrzeug 4e-Performance, ein Rennwagen mit 1200 Elektro-PS und 1280 Nm. Basis ist ein umgebauter Audi A3 von Partner Abt, in den vier Motoren aus dem Formel-E-Boliden FE01 implementiert wurden. Die dafür notwendige Energie kommt aus zwei Batterien mit einer Gesamtkapazität von 64 kWh. Mittels eines Stirnradgetriebes ist jedes einzelne Triebwerk direkt an ein Rad angebunden. Dabei teilen sich je zwei Motoren ein Getriebegehäuse und bilden so eine elektrische Twin-Achse. Damit wolle man auch das Torque Vectoring weiterentwickeln, denn ein solches System ist von oben – also in einer hohen Leistungsklasse – in den Grundlagen einfacher zu erforschen, als mit wenig Leistung, die dann später immer weiter gesteigert und neu untersucht werden muss. Die Beschleunigung von 0-200 km/h in unter sieben Sekunden spricht dabei für sich. Doch das Konzeptfahrzeug kann nicht nur vorwärts schnell – mit einer Geschwindigkeit von 210 km/h im Rückwärtsgang hängte Daniel Abt im Oktober 2018 einen vorwärtsfahrenden 720 PS starken Porsche GT2RS ab und schaffte somit einen Weltrekord. Damit will man einerseits zeigen, dass Antriebstechnik aus dem Rennsport relativ schnell auch in HighEnd-Fahrzeuge für die Straße übertragbar ist. „Natürlich ist das nur ein Konzept, solche Projekte sollen immer das maximal Mögliche demonstrieren“, verdeutlicht Schröder. Der 4ePerformance könnte aber Grundlagen schaffen und die Ergänzung für ein Serien-Antriebskonzept eines elektrischen High Performance Sportscar liefern.

Einen Blick in die Zukunft erlaubt das Forschungsprojekt Omni-Steer, das seit drei Jahren gemeinsam mit mehreren Projektpartnern Konzepte und Prototypen für neue Lenksysteme entwickelt. Omni steht dabei für orthogonale und mehrdirektionale Fahrmanöver sowie nichtlineare Lenkvorgänge. Dahinter verbirgt sich Folgendes: In Kombination mit dem Antriebsmodul „Intelligent Corner Module“ und Radaufhängungen, die größere Lenkeinschläge erlauben, wurden funktional sichere mechatronische Abstands- und Spurassistenten entwickelt, die künftig eine höhere Manövrierfähigkeit von Fahrzeugen ermöglichen sollen. „Voraussetzung für Omni-Steer sind zunächst die Elektrifizierung des Antriebsstrangs und in einem nächsten Schritt die damit verbundene Integration der Antriebe in die Räder gewesen“, erläutert Projektleiter Paul Haiduk. Der Antrieb ermögliche neue Anwendungsgebiete in der urbanen Mobilität, Stichwort Parken: „Der große Vorteil eines Radlenkwinkels von plus/minus 90 Grad und einzeln steuerbarer Räder ist der mögliche Übergang von beispielsweise einer Geradeausfahrt in ein seitliches Einparkmanöver ohne Zwischenstopp“, so Haiduk. Situativ kann zwischen Vorderrad-, Hinterrad- und Allradlenkung gewechselt werden. Auch ein Wenden auf der Stelle ist möglich.

Bisher erhielt die Schaeffler Gruppe acht Serienaufträge für E-Achsen und Hybridmodule von verschiedenen Automobilherstellern weltweit. „Das Umsatzpotential aus diesen Aufträgen beläuft sich auf über eine Milliarde Euro. Der Umsatzanteil mit Produkten und Systemen für Hybrid- und rein batteriebetriebene Fahrzeuge soll im Jahr 2020 bereits zirka 15 Prozent des Gesamtumsatzes des Automotive-OEM-Geschäftes betragen“, prognostiziert Automotive-OEM-Vorstand Matthias Zink.

www.schaeffler.com

„Die Beschleunigung scheppert mich weg!“ Daniel Abt im Video unterwegs mit dem 1200-PS-Elektrorennwagen 4e-Performance:
hier.pro/tp88p

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